Nach Recherchen von Malte Herwig wurde der Schriftsteller Dieter Wellershoff von der NSDAP als Mitglied geführt. Danach gefragt, lud er unseren Autor zu sich nach Hause ein und begab sich auf Erinnerungssuche
Vor Kurzem bekam der Schriftsteller Dieter Wellershoff, 83, einen Brief des Bundesarchivs in Berlin: Man habe, ausgelöst durch eine Recherche des ZEITmagazins, eine auf seinen Namen ausgestellte Karte in der Mitgliederkartei der NSDAP entdeckt – Dieter Wellershoff, Mitglied Nr. 10.172.531 der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Eine hohe, also späte Nummer, eine vom letzten Aufgebot.
Wer durfte in die Partei? Nur wer für würdig befunden wurde und unterschrieb. Sagen die Historiker. Dieter Wellershoff, das einstige Mitglied der Schriftstellervereinigung Gruppe 47, ein Mann, der sich in Büchern und Essays oft mit der deutschen Katastrophe beschäftigte, sagt am Telefon: „Ich war total vor den Kopf geschlagen, als ich von der Karte erfuhr.“
Er ist bereit zum Gespräch. Es findet Tage später in seiner Kölner Altbauwohnung statt. Wellershoff breitet Dokumente und Fotos auf dem Glastisch aus. Die Entlassungsurkunde aus britischer Gefangenschaft liegt da, ein Fotoalbum aus den dreißiger und vierziger Jahren. Und die Kopie der NSDAP-Karteikarte.
„Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, dass ich irgendwas unterschrieben hätte“, sagt Wellershoff. Und in der Tat, eine Unterschrift von ihm wurde im Bundesarchiv nicht gefunden. Könnte er verdrängt haben, dass er als 17-Jähriger einen Zettel mit seinem Namen versah, als man ihn aufforderte, in die Partei einzutreten? Wellershoff, der den Krieg erlebte und eindringlich beschrieb, ist Erinnerungsspezialist. „Mit Verdrängungen kenne ich mich aus, Verdrängung gibt es.“
Vier Stunden dauert das Gespräch. Ein Wühlen im Gedächtnis, in Dokumenten, und doch bleibt am Ende ein leeres Bild. Mittendrin springt Wellershoff auf, geht zum Bücherregal, sucht etwas. „Wir waren im Krieg und auf das nackte Existieren zurückgeworfen“, sagt er. „Man muss erlebt haben, wie Stalinorgeln mit ihren Salven fast eine ganze Kompanie niedermähten. Wie Luftminen links und rechts einschlugen, das habe ich in Berlin erlebt, in der Kaserne.“ Sein Blick gleitet an den Buchreihen entlang. „Wir mussten raus und Sachen aus brennenden Häusern tragen. Da hat mir jemand ein Büchlein geschenkt, in das ich guckte: ‚Nimm es mit, Junge!'“ Er zieht es aus dem Regal und reicht es herüber: das Buch aus einer Bombennacht, GrillparzersKönig Ottokars Glück und Ende .
Lesen, das war etwas Individuelles, ja Intimes, ein innerer Urlaub vom Kriegskollektiv. Überhaupt, die „Gemeinschaft“. Wenn schon, dann habe er die Soldaten bewundert. „Aber vor diesen braunen Leuten habe ich nur Abscheu empfunden. Ich habe eine solche Abneigung gegen Parteien gehabt, dass ich als junger Mann noch nicht einmal in eine bundesdeutsche Partei eingetreten wäre.“
Woher dann die Karte? „Tja, die Karte steht da im Raum, und das ist ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Aber es fehlt die Szene dazu“, sagt er und tippt mit den Fingern auf die Stuhllehne. Er gibt nicht den trotzigen Dementierer. Er bohrt sich in das Damals hinein, hellwach. Man ist geneigt, ihm zu glauben.
„Ich war nicht Mitglied der NSDAP! Ich hätte ja verrückt sein müssen, am Ende des Krieges einzutreten. Wem hätte ich damit gefallen wollen können? Wir Jungen wurden verheizt für die Fantasiepolitik der NSDAP. Damit diese Leute noch ein paar Monate länger an der Macht blieben.“ Er erzählt von Scheinbataillonen, aufgestellt in den letzten Kriegsmonaten. „Ich habe ein ganzes Feld voll gefallener Kameraden vor Augen, wenn ich daran denke.“ Und nach einer Pause: „Dass ich den Krieg überlebt habe, das habe ich versucht zurückzuzahlen, indem ich mich aufklärerisch verhalten habe.“
Auch gegen sich selbst? Laut Karteikarte wurde die Parteiaufnahme des Dieter Wellershoff, geboren am 3.November 1925 in Neuss, am 20. April 1944 beantragt und erfolgte rückwirkend zum 20. April 1943. Zudem liegt dem Bundesarchiv eine Liste von 368 Aufnahmescheinen vor, dort taucht auch der Name Wellershoff auf. Die Liste sandte die Gauleitung Düsseldorf am 28. Oktober 1944 an die Reichsleitung in München. Zu Beanstandungen, etwa wegen fehlender eigenhändiger Unterschriften, kam es nicht.
Wellershoff ist nicht der erste Fall, in dem neu entdeckte Dokumente Fragen zur Vergangenheit moralischer Instanzen der Bundesrepublik aufwerfen. 2003, 14 Jahre nach dem Tod des Historikers Martin Broszat, enthüllten Archivfunde, dass ausgerechnet der einflussreiche Holocaust-Forscher als 18-Jähriger in die NSDAP aufgenommen worden war. Auch die Germanisten Walter Jens, Walter Höllerer und Peter Wapnewski waren auf Karteikarten erfasst, außerdem weitere Intellektuelle, linke wie konservative, der Jahrgänge 1925 bis 1927, Wortführer der jungen Bundesrepublik. Martin Walser, Dieter Hildebrandt, Siegfried Lenz, Horst Ehmke, Erhard Eppler, Hermann Lübbe, Tankred Dorst, Peter Boenisch, Wolfgang Iser, Hans Werner Henze. Abgesehen von Eppler, wollte sich keiner erinnern können, je einen Aufnahmeantrag unterschrieben zu haben. Die NSDAP – ein Verein von Zufallsmitgliedern?
Projiziert eine so vergessliche Art, sich zu erinnern, nicht alle Schuld auf die angepassten anderen – aus Furcht, die eigenen Leistungen würden durch das „beschämende Odium des Mitläufertums“, wie Wellershoff es einmal nannte, entwertet? Das Parteiabzeichen als brauner Fleck auf dem Lebenslauf vorbildlicher Demokraten. Kompensierten die moralischen Überväter der Bundesrepublik ihr eigenes Dabei-gewesen-Sein, indem sie Deutschland und den Deutschen immer wieder die Leviten lasen?
Mit zehn ging Dieter Wellershoff, der Junge aus Grevenbroich, ins Jungvolk, die Jugendorganisation der Hitlerjugend, später wurde er Jungvolkführer: „In Grevenbroich war ich der Oberste, da konnte mich keiner kontrollieren.“ Nach dem Reichsarbeitsdienst meldete er sich 1943 zur Panzerdivision Hermann Göring, „um so den Werbern der Waffen-SS zu entgehen“. Am 13. Oktober 1944 in Ostpreußen verwundet, verbrachte er Monate im Lazarett in Bad Reichenhall. Im Frühjahr 1945 wurde er auf eigenes Betreiben wieder an die Front geschickt, gelangte aber in amerikanische, dann in britische Kriegsgefangenschaft, aus der er im Sommer entlassen wurde.
Wurde der 18-Jährige tatsächlich ohne eigenes Wissen in Hitlers Partei aufgenommen? Hat ein eifriger Ortsgruppenführer aus Wellershoffs Heimatstadt Grevenbroich den Namen auf die Liste gesetzt und die Unterschrift gefälscht? Hatten nicht auch Walser, Hildebrandt und Henze beteuert, ihre Aufnahme sei schlicht ein „Geburtstagsgeschenk für den Führer“ gewesen – zum 20. April, Hitlers Geburtstag? „Ich stelle mir vor“, versucht Wellershoff seine Mitgliedskarte zu erklären, „dass der Gau Düsseldorf durch Bombenschäden oder andere Dinge ein Jahr im Rückstand war. Da haben die einfach 368 Leute genannt, die erklärt hätten, in die Partei einzutreten. Das ist dann rückdatiert worden auf das Jahr 1943.“
Der Grund für die Rückdatierung der Aufnahme wird in einem Schreiben der Reichsleitung vom 6. Mai 1944 angedeutet, die sich wegen der „besonderen Verhältnisse im Gau Düsseldorf“ bereit erklärt, ausnahmsweise Aufnahmeanträge, die bisher nicht eingereicht werden konnten, noch „nach Abschluß der diesjährigen HJ-Aufnahmeaktion“ zu bearbeiten. Mit den „besonderen Verhältnissen“ dürften die schwierigen Bedingungen für NSDAP-Werbung im katholischen Rheinland gemeint sein. Davon hob sich der Jungvolkführer Wellershoff schon insofern ab, als er aus protestantisch-bildungsbürgerlichem Hause kam.
Bei der „Aufnahmeaktion“ handelte es sich jedoch keinesfalls um eine automatische Parteiaufnahme ganzer Jahrgänge. Der Parteienforscher Michael Buddrus stellte 2003 in einem Gutachten fest, dass es keine automatischen korporativen Parteiaufnahmen von Angehörigen einzelner Geburtsjahrgänge oder NS-Verbände gab. Alles andere seien „Legenden, die ihren Ausgangspunkt in Entlastungsbemühungen der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten“.
Auch der Historiker Armin Nolzen hält das Argument von Kollektivaufnahmen für eine Schutzbehauptung der Nachkriegszeit. Zwischen 1937 und 1944 habe es für keinen einzigen HJ-Jahrgang automatische Parteiaufnahmeverfahren gegeben. Für eigenmächtige Anmeldungen durch HJ-Führer, resümiert Nolzen im aktuellen Sammelband Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder den Forschungsstand, gebe es „bislang keinen einzigen empirischen Beweis“. Auch sei aus keiner Quelle eine gefälschte Unterschrift eines HJ-Führers bekannt. Zwar waren sie es, die letztlich entschieden, wer in die Partei durfte. Voraussetzung gewesen seien aber „die eigenhändig unterschriebenen Aufnahmeanträge derjenigen Jugendlichen, die sie für den Parteieintritt als ‚würdig‘ erachteten“ – das waren 1944 im Durchschnitt weniger als 20 Prozent aller Hitlerjungen eines Jahrgangs.
Aussage steht gegen Aussage. Karteikarte gegen Erinnerung. Und wenn die Karteikarte die Wahrheit sagt – was sagt sie über Dieter Wellershoff? Warum sollte einer dieses Detail verheimlichen, der ansonsten schonungslos mit dem „Dritten Reich“ abrechnete?
„Ob ich in der Partei war oder nicht“, sagt er, „hat keinen Einfluss darauf, dass ich mich grundsätzlich betroffen fühle, dass so etwas passiert ist und dass ich dabei gewesen bin. Das ist etwas, das man in seiner Dimension gar nicht wegschieben und verkleinern kann – der Krieg und die Vernichtungslager, das Zerbomben der Städte.“
Ist es möglich, dass ein junger Mann, der jeden überlebten Tag als existenziell empfinden musste, die Aufnahme in die Partei der Nazis als so nebensächlich empfand, dass er sie vergaß? Oder war, andersherum, die Scham so groß, dass sie die Erinnerung tilgte?
Verdrängung, glaubt Wellershoff, habe mit der Erfahrungsentfremdung zwischen den Generationen zu tun. In einem wirklichen Generationengespräch, findet er, hätte die junge Generation darüber nachzudenken, wie es möglich sei, dass Menschen in so etwas hineingerieten. „Dieses gute Gefühl ‚Nein, wir sind ganz andere Menschen‘, das ist doch auch ein Verdrängungsmechanismus.“
Er erzählt sehr offen von seiner Jugend in Grevenbroich, dem Elternhaus mit der Fahnenstange vor der Tür, das der als Kreisbaumeister arbeitende Vater selbst geplant hatte. Wellershoff beschreibt ihn als Menschen mit einem Faible für Uniformen. Im Familienalbum lächelt ein hagerer, hochgewachsener Mann. Walter Wellershoff war in der NSDAP, „aber er war ein völlig unpolitischer Mensch“, sagt sein Sohn heute. „Wie andere, die so dachten, ging er 1938 als Luftwaffenoffizier in die Wehrmacht, ganz explizit, um sich der Partei zu entziehen.“
Und doch war das Engagement des Vaters im NS-Staat nicht ganz beiläufig. Wie er selbst im Februar 1949 im Entnazifizierungs-Fragebogen angab, der dem ZEITmagazin vorliegt, war er auch Mitglied der SA und weiterer NS-Organisationen: Reichsluftschutzbund, NS-Volkswohlfahrt, NS-Reichskriegerbund, NS-Bund Deutscher Technik, Reichskolonialbund. „Dass dein Vater in so vielen Vereinen war, wundert mich nicht“, ruft Wellershoffs Frau Maria von nebenan. „Der war kein Held, der war ein Anpasser.“ Dieter Wellershoff erinnert sich, einmal gehört zu haben, wie seine Mutter den Vater anstachelte, er könnte in diesem Staat doch schon viel weiter sein. Ehrgeiz, Opportunismus, Anpassung – diese Haltung war typisch für viele Erwachsene im „Dritten Reich“. Und die Jugend damals?
Hört man Dieter Wellershoff zu, war der Generationenkonflikt keine Erfindung von 1968: „Hitlerjunge und Jungvolk, das konnte man akzeptieren, das waren wir Jungen selbst. Aber die Partei, das waren die Erwachsenen, die dieses System zu verantworten hatten, oft Spießer und Opportunisten. Uns Jungen muss man glauben, dass wir nicht aus Opportunismus gehandelt haben.“
Ein Schock sei es gewesen, als er von den KZs erfuhr. „Da war ich völlig fassungslos, dass man in diesen Zusammenhängen sein Leben zur Verfügung gestellt hatte. Ein ungeheurer Betrug an der eigenen Generation. Wir fühlten uns missbraucht.“
Aber wer hatte sie missbraucht?
„Na, die Nazis! Die Partei. Und natürlich viele Helfershelfer, auch in anderen Ländern.“
Was unterschied Nazis von Nichtnazis?
„Die Nazis hatten die Ideologie, wir müssen eine bestimmte Menschensorte ausrotten.“
Waren alle, die in der NSDAP waren, Nazis?
„Nein. Viele haben sich einfach angepasst. Mein Vater sagte, er müsse dafür sorgen, dass die Häuser anständig gemacht werden.“
Häuser, Autobahnen, Vollbeschäftigung. Und dahinter Lager, Einsatzgruppen, SS. Wem kann man noch trauen, wenn so ein Weltbild kollabiert und man mit dem Mitschuldvorwurf konfrontiert wird? Wellershoff schüttelt den Kopf. „Ohne mich, hat unsere Generation gesagt. Wir konnten nur noch uns selbst vertrauen.“ Er habe nach dem Krieg ein Motto gehabt, er wisse nicht, wo der Spruch herkomme: „Wenn ich das Wort Gemeinschaft höre, entsichere ich meine Pistole.“
Der Satz stammt von Goebbels: „Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver.“ Das Motto der existenzialistischen Nachkriegsjugend als Echo eines Spruchs des NS-Propagandaministers. Noch in ihrer Skepsis war die verratene Generation von der Vergangenheit geprägt, die sie dann ein aufrechtes Demokratenleben lang scharf bekämpfte.
Wellershoffs Generation stand auf Trümmern, wohin das Auge sah. Sieben Jahre war der totale Krieg her, doch seine Spuren waren noch da, als der 26-Jährige 1952 den Kölner Dom bestieg. Zu seinen Füßen sah er eine Ruinenlandschaft mit notdürftig geräumten Straßen. Es war ein zwiespältiges Bild, das sich ihm bot. Im Untergang steckte die Hoffnung auf einen Neuanfang, doch im Boden schlummerten Bomben, „die aus irgendeinem Grund nicht explodiert waren und die man erst entdecken würde, wenn der weitere Aufbau der Stadt tiefere Fundamente brauchte“. So beschreibt es Wellershoff in seinem Erinnerungsessay Die Nachkriegszeit – Anpassung oder Lernprozess. Und im Geistigen sei es nicht anders gewesen. „Auch da war noch mancherlei verborgen und sollte erst viel später zum Vorschein kommen.“
Als die NSDAP-Karteikarten bundesrepublikanischer Idole auftauchten, haben einige Publizisten versucht, deren demokratisches Lebenswerk gegen die vermaledeiten Karten in Schutz zu nehmen – aus einem simplen Grund: Eine jüngere Generation möchte selbst leise Zweifel an der biografischen Geradlinigkeit ihrer Helden tilgen. Eine Schwarz-Weiß-Welt, in der es die bösen Nazis gab und die guten Bundesrepublikaner, die mit ihnen aufräumten. Dass auch gebrochene Biografien lehrreich, ja vorbildlich sein können, passt nicht ins Dogma nachgeborener Hohepriester deutscher Vergangenheitsbewältigung.
Auch Wellershoff hat, nach den Enthüllungen über Walser, Grass und andere, die Aufregung um die NSDAP-Mitgliedschaften in einem Spiegel- Essay als „journalistisches Sommertheater“ bagatellisiert. Die SS-Mitgliedschaft des jungen Grass allein sei „kein kritikwürdiger Tatbestand“. Er nannte es aber einen Skandal, dass Grass „es 60 Jahre lang nicht gewagt hat, darüber zu sprechen, und stattdessen harmlose Geschichten über seine Existenz als Flakhelfer in Umlauf gebracht hat“.
Und nun er selbst. Als Erzähler wie als Essayist sind Dieter Wellershoff Erkenntnis und Wahrheit stets Anliegen gewesen. Er hat über seine jugendliche Begeisterung für Hitlers Wehrmacht geschrieben und über seinen Wunsch, an der Front zu kämpfen. Als er in den neunziger Jahren zur Kur nach Bad Reichenhall ging, wo er ein halbes Jahrhundert zuvor verwundet gelegen hatte, schrieb er über die Begegnung mit der eigenen Vergangenheit das Buch Der Ernstfall. Darin berichtet er von einem Missgeschick.
Im Sommer 1945, aus der Kriegsgefangenschaft zurück, grüßt er gedankenlos einen alten Lehrer auf der Straße mit dem Hitlergruß: „Es war mir herausgerutscht, ein blöder Versprecher, kompromittierend wie bekleckerte Kleidung. Der Makel klebte an mir und ließ mich lächerlich aussehen. Ich konnte ihn nicht abwischen, nicht durch irgendeine rasche beflissene Korrektur.“
„Vielleicht darf man hoffen“, schrieb Dieter Wellershoff über die Vergangenheitsbewältigung des Schriftstellerkollegen Grass, „dass mit dieser exemplarischen Geschichte die Nachkriegszeit zu Ende geht.“ Doch es ist noch nichts zu Ende, auch nicht für Wellershoff. In den Trümmern der deutschen Geschichte schlummern immer noch Bomben.
MALTE HERWIG
erschienen im ZEITmagazin Nr. 25 vom 10.06.2009
Na ja, ob das gerade Bomben sind die da explodieren bezweifle ich, eher kleine Zuender, im Falle Grass sowie Wellershof der ja aus einer sehr Deutschnationalen Familie stammt. Wer waeren die heutigen Mitlaufer frage ich mich, der das grosse Glueck gehabt von Familien von Wiederstaendlern sofort ab Sommer 1945 als Achtjaehriger aufgeklaert zu werden, die bis dahin einem Kind nichts davon sagten, z.b. dass es im nahen Teufelsmohr [von Bremen] es auch ein kleines KZ gab, Geruechte davon aber den Kindern beim Schlittschufahren auf den gefrorenem ueberfluteten Wiesen Angst einfloessten. Bei dem was Sie da schreiben, faellt mir, Jahrgang 1937, ein, dass wenn man
mich und meinem [Fluechtlingsvetter] und Blutbruder [schnell wie ein Windhund, zaeh wie Krupp Stahl]
Ditloff von Arnim im Fruehling 1945 ausserhalb Bremens
mit dem Ueberbleibsels eines Deutschen Batallions von Arnheim bis Bremen mit blutigen Socken marchiert
und um unseren Teich rum lagernd
zum Einsatz bei einer Verteidigung als SS Pimpfe angeheuert haette wir dass sofort gemacht haetten,
im Herbst als Grossvater sowie Eltern aus ihren verschieden KZ’s und Gestapo Gefaengnissen zurueck
begann dann die nie aufhoerende Aufklaerung… und ab eines gewissen Zeitpunkts [1947] – ich las in einer Zeitung eine Beschreibung wie mein Grossvater Werner von Alvensleben in Buchenwald [seinem 4ten KZ] tortuiert wurde, nie zeigte er seine Ruecken seiner Frau oder seinen Toechtern – wollte ich nicht als weg aus dem Moerderland… ich schreib gerade etwas memoirenhaftes 1944-47 Die Idyllischen Jahre: Keine Ironie
deswegen ist das meinem truegerischen Gedaechtniss das gerade so anwesend. Der Nationalismus ist mir und meinen Vettern durch das Radio, und die Zeitungen in die Knochen, die lieben Arnims Vettern und ich balgten uns dann aber noch ueber wer der besser Boxer sie, Schmeling oder Joe Louis, ich frueh Ami trat fuer Louis ein. Was mir jetzt
aus Seattle der Stadt der ich momentan lebe, Sorgen macht ist was Handke so treffend als „Menschenrechtshyäne“ bezeichnet… der ja selbst in Fall von Grass sich als eine solche selbstgerechtig benommen hat, trotzdem er sich sogar damals schon schoene Gedanken darueber in seinem „Damiel“ machte — also, ‚Selbstgerechtigkeit“ – der wutentbrannte Gerechigkeitssinn, etwas alzu Menschliches.
DIe Metapher stammt von Wellershoff selbst, der die Bomben-Altlasten in der Kölner Altstadt auf die verschüttete Vergangenheit von Schriftstellerkollegen in der Gruppe 47 münzte. Da ist es ja wohl schon eine Ironie des Schicksals, dass er selber was vergraben hatte, oder etwa nicht?!
Die Decouvrierungsattitüden der Wohlstandskindergeneration, die sich an den damals 17-19jährigen abarbeiten (ohne vermutlich jemals in deren Situationen auch nur annäherungsweise gekommen zu sein) nimmt inzwischen nur noch rein inquisitorische Züge an. Das war bei Grass schon so, der für seine Selbstgerechtigkeit abgewatscht werden konnte. Ähnliches bei Walser, Siegfried Lenz oder Hildebrandt.
Man verbrämt das mit aufklärerischer Attitüde. Grossherzig „verzeiht“ man den eigentlichen Akt um herauszufinden, wie der Prominente damit in den letzten 65 Jahren umgegangen ist. Akten, deren Authentizität vielleicht geprüft ist, werden dadurch auch für wahr gehalten (man kennt das aus der DDR-Geschichte, in der dies auch praktiziert wurde; vor allem um unliebsame Geister schnell zu entsorgen). Man zitiert wissenschaftliche Thesen, die etwas beweisen sollen, aber nur Thesen bleiben (und verschweigt meist die Gegenthesen). Der Angeklagte wird sofort in die Defensive verbracht; im günstigsten Fall (wie hier) zum Verhör geladen.
Das muss alles ganz schnell geschehen, sonst man das das investigative Süppchen nicht mehr löffeln. Die Generation stibt (im wörtlichen Sinn) bald aus. Was bleibt dann noch? Die Frage, ob Herr X kinderpornografische Bilder im Schrank oder auf dem Computer hat? Oder dann tatsächlich die Frage, ob und wieviele Frauen Willy Brandt in seinen Wahlkampfzügen getroffen haben mag? Oh ja, so stell‘ ich mir Journalismus vor. Genau so.
Die NSDAP-Mitgliedschaft wäre heutzutage völlig belanglos, wenn sie nicht immer noch so ein offensichtliches Tabu wäre, dass gestandene und verdiente Männer sich außerstande sehen, eine Unterschrift zum Parteieintritt geleistet zu haben. Warum reden sie denn nicht offen drüber, wenn es so eine Bagatelle ist? Genau das ist der springende Punkt: Unser heutiger Umgang damit – es geht nicht um die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Wer immer nur gepredigt hat, es gebe keine guten und schlechten, sondern nur schlechte Nazis, der muß damit Probleme haben, wenn die Wirklichkeit komplexer ist als das eigene Vorverurteilungschema. Die Ironie dieser ganzen NS-Karteikarten: die wahren Richter treten heute als Verteidiger auf – im ureigensten Interesse.
Also: Entnaziefierung. Ist schon komisch dass Herr Wellershof der sich wohl nicht an mich als ich bei Kiepenheuer als Amerikanischer „literary Scout“ 1965 auftauchte, erinnern wird, das NSDAP Mitgliedschaft verdraengt hat, trotzdem er doch aus einer sehr Deutschnationalen Familie stammt, Jungfolk, Hitlerjugend, Kriegsbegeistert…. warum dieses dann als solches Makel, und nicht nur bei ihm???
Also, mein Erinnerungsvermoegen faengt eigentlich konsekutiv mit Weihnachten 1943/4 an… vorher gibt’s
diese schoenen „Deckerinnerungen“ [wie sie Freud so treffend nennt] worum sich diese frueheren Lebenszeiten versammelt haben… Weihnachten
1940/41…. die Identifiezierung mit dem Grossvater der mal wieder Ferien vom KA hatte… die ersten Bombenangriffe 1941… alle mit Traumatischem verbunden… Schmerzen Kerben…
und ich erinnere mich auch an Ernst Salomon’s Der Fragebogen [so um 1948] herum… also die „Entnaziefiezierung“..von der die Amis nichts gelernt hatten als sie Iraq besetzten… das komische dabei war, dass sogar mein Vater, der Wirtschaftsminister bei eventuellem Gelingen des 20ten Juli geworden waere… der seine Gestapo Haft mit Selbsbmord Versuch um nicht Namen zu nennen, was ihm das Leben rettete, da er deswegen bei Albrecht Tietze in dessen Krankenhaus eingliefert wurde, und erst wieder in der Bendler Strasse als Freisler samt des ja wirklichen „Volks“ Gerichthof zerbombt waren, das Ender des Reiches da ueberlebt hat, samt Ausbruch aus dem halb-zerstoerten Gefaengnis… wo die meisten SS/Gestapo Kerle schon geflohen waren…
dann in 1946, ein Paar Monate von den Briten interniert wurde, als unsere Familie ausserhalb Bremen unter dem Schutz der OSS/Amis stand, [ach wie schoen der Vater ist weg, der Haus Diktator, dachten wir Kinder!] da er in der NSDAP gewesen war… also: der Makel der Partei anghehoert zu haben scheint doch tiefe Wunden in der Volksseele hinterlassen zu haben?? Um Hitler und der Partei Wiederstand zu leisten musste man ja der Partei angehoeren, oder bei Canaris oder im Militaer sein, oder Kommunist oder ueberzeugter Christ wie der Schweizer Maurice Bavaud [siehe TELL 38/ Rolf Hochhut]. Es hat aber auch einige andere eher heimliche Helden, so wie Tietze und seine Assistentin, Dr. Charlotte Pommer in Berlin, und auch viele sogenannte „einfache“ Leute, auch Berliner Polizisten, zwar zu wenige … aber es gab den stillen Wiederstand… Aber an NSDAP Angehoerigkeit haengt ein Makel und er hat zu tun mit der ewigen Wiederkehr dessen was „der steinerne Gast“ gennannt wird… und wogegen jemand wie Walser sich aufbaeumt ohne die richtige Sicht auf was da zugeht zu haben…Es haengt wohl damit zusammen dass die Deutschen nie mals die Chance hatten mit sich selbst zu Gericht zu gehen… die vier Zonen… die miserable Entnaziefierun von den Allierten gemacht…. der „Kalte Krieg“…. Adenauer… erst mit dem Auschwitz Prozess in den 60zige Jahren kam das Thema was da passiert war… wiieder wirklich in die Oeffentlichkeit…. ein riisieger Schlamassel. Ihr, Michael Roloff
Der Komplex um Aufrichtigkeit, Karteikarten etc. ist einfach aufzulösen: durch soziale Generalamnestie. Konkret: alle vor-45er erhalten durch die Leitmedien Schutz vor sozialer Ächtung und kleinlicher Beckmesserei, wenn sie ihre persönlichen Karten auf den Tisch legen. Das ist ein wichtiger Test für die Ernsthaftigkeit und Reife beider Seiten und kann uns sofort von zirkelhaften Diskussionen erlösen. Daß die Erlebnisgeneration viel schweigt, liegt auch daran, daß dieser einfache Weg bisher nicht gegangen wurde. Warum ? Nach Kurt Ziesel („Das verlorene Gewissen“) herrschte bei vielen ehemaligen Nazi-Schriftleitern, die später als „demokratische“ Journalisten Karriere machten, der Zwang, von sich selbst abzulenken und die einfachen Verführten oder auch Konkurrenten im eigenen Haus mit deren „Verstrickung“ öffentlich hinzurichten. Da heute niemand mehr mit Vorwürfen Karriere machen kann, sollten wir JETZT den abschließenden Schritt tun: Amnestie gegen Wahrheit. Was für Steuersünder gut war, sollte für Überlebende einer längst entschwundenen Epoche mehr als billig sein. Ich (geb. 1961) erkläre hiermit: ICH VERZEIHE.
Gefaellt mir sehr Ihre witzige Attituede, Herr Meckelreither! Sie sollten daraufhin ihren Namen aendern auf Nichtmeckermehr! Aber Hexenreiter scheint’s immer noch zu geben, z.b. sogar auf Serben die NICHT eine Greueltat verhindert haben. Selbstgerechtigkeit, etwas nur allzu menschliches??